Samstag, 24. Januar 2009
 
Nahost: Gedanken zu einem vermeidbaren Krieg PDF Drucken E-Mail
Geschrieben von Ernst Schwarcz   
Dienstag, 12. September 2006

Der am 12. Juli dieses Jahres von Israel gegen den Libanon begonnene Krieg hatte als auslösenden Anlass die Geiselnahme von zwei israelischen Soldaten durch Kämpfer der Hisbollah, einer antiisraelischen Kampforganisation, die im politischen Leben des Libanon auch als soziale Bewegung eine bedeutende Rolle spielt.

Sehr wahrscheinlich hatte der militärische Geheimdienst Israels schon seit langer Zeit genaue Informationen über die militärischen Anlagen und über die Bewaffnung der an der Südgrenze des Libanon stationierten Hisbollah-Einheiten. Es herrschte allerdings in der politischen Führung Israels unmittelbar nach der Geiselnahme noch keine Einigkeit, ob als Reaktion darauf ein Krieg gegen den Libanon sofort beginnen sollte. In einem Zeitungsbericht hieß es, dass sich bei einer Diskussion in der obersten Führung des Landes ein israelischer General für eine politische Lösung des Konflikts aussprach, dass er aber überstimmt wurde. Genauso gibt eine fast spiegelbildliche Meldung des "Standard" vom 28. August zu denken, in der es heißt: "der Führer der Hisbollah, Nasrallah, bedauerte die Entführung der israelischen Soldaten." - Er sagte ausdrücklich: "Hätten wir gewusst, dass die Gefangennahme der Soldaten all dies nach sich ziehen würde, so hätten wir es nicht getan."

Wie oft in der Geschichte wurde aber - im Bewusstsein der enormen militärischen Überlegenheit Israels (Israel wird in Fachkreisen als viertstärkste Militärmacht der Welt eingestuft) - der Beschluss zum militärischen Dreinschlagen offenbar übereilt gefasst, ohne dass die Risken und vor allem die Auswirkungen der Militärschläge auf die Zivilbevölkerung im Libanon und in Israel wirklich ausreichend bedacht worden sind. So wurde es der israelischen Armeeführung erst etliche Tage nach Beginn des Krieges bewusst, dass es gegen die im Besitz der Hisbollah befindlichen Katjuscha-Raketen so gut wie keine Abwehrmöglichkeiten gab. Obwohl nach dem Ende des Krieges die Zahl der durch das israelische Bombardement getöteten Libanesen fast tausend betrug (die meisten davon Zivilisten) und die Zahl der Verletzten in die Zehntausende ging (die Zahl der Kriegsopfer der Hisbollah ist nach wie vor unbekannt), hatte Israel "nur" den Verlust von 115 Soldaten und 39 Zivilisten (durch die etwa 3800 libanesischen Katjuscha-Raketen) zu beklagen. Dazu kommt aber, dass im Libanon riesige Wohnanlagen sowie wichtige Fernstraßen und Brücken durch Bomben und Artillerie zerstört wurden. - Als der Krieg durch den Waffenstillstandsbefehl der Vereinten Nationen nach 34 Tagen beendet wurde, kam es der israelischen Regierung zum Bewusstsein, dass sie ihr Kriegsziel - nämlich die Vernichtung der Hisbollah und ihrer Militäranlagen - verfehlt hatte.

Welche Rolle spielt das Völkerrecht?

Hier muss vorrangig die grundsätzliche Frage angeschnitten werden, ob es nach dem Völkerrecht überhaupt erlaubt ist, gegen feindliche Bedrohungen irgendwelcher Art einen Präventivkrieg zu beginnen. Denken wir nur an den Fall der jahrzehntelangen Spannungen zwischen Indien und Pakistan wegen des Kaschmir-Konflikts. Hier haben die beiden Länder seit ihrer Gründung nicht weniger als sechs Kriege gegeneinander geführt. Wenn die Regierungen dieser beiden Länder, die obendrein im Besitz von Atomwaffen sind, wegen der immer noch vorhandenen politischen Spannungen einen neuen Krieg beginnen wollten, so könnten sie, wenn sie dem Beispiel Israels folgen würden, zu einem beliebigen Zeitpunkt wieder einen Krieg vom Zaun brechen. - Zweifellos gibt es heute weltweit eine Unzahl Länder, die sich ähnlich wie Israel von der militärischen Macht eines Nachbarstaates bedroht fühlen. Würden sich alle dazu entschließen, in gleicher Weise wie Israel zu reagieren, so könnte es zum Dritten Weltkrieg kommen.

Doch vorerst noch einige Worte zur Frage des "unnötig brutalen Krieges". Am 25. Juli war von der israelischen Armee ein mit vier Blauhelmen besetzter und deutlich ausgezeichneter UNO-Beobachtungsposten im Südlibanon trotz eindringlicher Appelle an die israelische Regierung mit Bomben attackiert und dessen vierköpfige Besatzung getötet worden. - Weltweites Entsetzen löste kurz danach der Luftangriff auf Kana am 30. Juli aus, bei dem nach ersten Meldungen mindestens 50 Menschen, davon fast nur Frauen und Kinder, getötet worden waren. (Später hat sich die Zahl der Getöteten auf 28 reduziert.) - Einer der größten Skandale im Zusammenhang mit diesem Krieg ist aber nach meiner Meinung die Tatsache, dass die Waffenstillstandsverhandlungen im UNO-Sicherheitsrat durch die USA - als Schutzmacht Israels - so lange hinausgezögert wurden, bis die theoretische Wahrscheinlichkeit eines eindeutigen israelischen Sieges über die Hisbollah gegeben war. - Ein Waffenstillstand zu einem früheren Zeitpunkt hätte einer Unzahl Libanesen das Leben gerettet und es hätte im Libanon weniger Zerstörungen gegeben.

Zur Frage des unnötig brutalen Krieges seien im Folgenden zuerst die zum Einsatz gekommenen "sophisticated weapons" erwähnt. Eine dieser "hochmodernen Waffentypen" ist die sogenannte Vakuumbombe, die bei ihrer Explosion den in der näheren Umgebung befindlichen Sauerstoff schlagartig verbraucht, so dass über der Abwurfstelle ein Vakuum entsteht. Durch den erzeugten Unterdruck platzen Lungen und Trommelfelle. Die Menschen ersticken blitzartig und Gebäude stürzen wie Kartenhäuser zusammen. Darüber berichtete Leo Gabriel in einem Artikel des "Standard" vom 7. August. - Die zweite "hochmoderne" Waffenart sind Splitterbomben (auch Streubomben genannt), die erst in den letzten 72 Stunden des Krieges zum Einsatz gekommen sind, als der Waffenstillstand schon absehbar war. Der Einsatz dieser Bomben war an Lieferbedingungen der USA gebunden. Dazu heißt es in "Der Standard" vom 1. September: "Nach Internationalem Recht ist der Einsatz von Streubomben in Wohngebieten verboten. Laut *New York Times* wurden im Südlibanon drei Arten von Streubomben aus US-Produktion entdeckt, denen auch Zivilisten zum Opfer fielen. Das US-Außenministerium untersucht, ob Israel damit gegen die Lieferbedingungen verstoßen hat." Es handelt sich bei den 170 durch Israel im Libanon zum Einsatz gebrachten Behältern mit Splitterbomben um eine besonders grausame Waffe. In einem Behälter befinden sich 202 mit scharfen Stahlsplittern gefüllte kleine Bomben in der Größe von Tennisbällen Diese werden von Flugzeugen mittels Fallschirmen über dem Zielgebiet abgeworfen. Dazu sagt der UN-Nothilfekoordinator Jan Egeland in dem erwähnten Zeitungsbericht: "Es ist ein Skandal, dass wir rund 10.000 nicht explodierte Bomben dort haben, wo Kinder, Frauen, Ladenbesitzer und Bauern nun langgehen werden." Die nicht explodierten "Tennisbälle" stellen für alle Menschen eine große Gefahr dar und fügen den Opfern bei ihrer Explosion so schwere Verletzungen zu, dass die Chirurgen in den Spitälern bei der Behandlung der Wunden oft hilflos sind.

Warum diese Härte der Kriegsführung?


Die von Israel in diesem Krieg gebrauchte Härte ist nur dann einigermaßen verständlich, wenn man das Schicksal des jüdischen Volkes in den letzten siebzig Jahren betrachtet. In den nationalsozialistischen KZ's wurden zwischen 1939 und 1945 sechs Millionen Juden ermordet. Als nach dem Kriegsende ein Judenstaat in Palästina errichtet wurde, haben die umliegenden arabischen Staaten 1948 ein Krieg begonnen mit der Absicht, "die Juden ins Meer zu werfen". Dann gab es mit der gleichen Absicht in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen weitere Kriege der arabischen Staaten gegen Israel, wovon der Sechs-Tage-Krieg 1967 eine wichtige Rolle für das Israelische Selbstbewusstsein spielte. Aus allen diesen Erfahrungen hat sich ein - wie ich es bezeichnen möchte - Existenzangst-Trauma des ganzen Volkes entwickelt. Einer der Beweise dafür ist die achtzigprozentige Zustimmung der israelischen Bevölkerung zu dem Libanon-Krieg. Und als Resultat dieses Traumas und der maßlosen Wut der Bevölkerung wegen der unerwartetet hohen Zahl israelischer Kriegsopfer wurden auch die stärksten Waffen rücksichtslos eingesetzt.

Welche Möglichkeiten gibt es für einen dauerhaften Frieden in Nahost?

Eine dauerhafte Friedenslösung setzt Kompromissbereitschaft aller Beteiligten voraus. Und dafür, dass ein dauerhafter Friede fast niemals nur durch militärische Machtentfaltung erreicht werden kann, gibt es unzählige Beweise in der Weltgeschichte. Deshalb sollte Israel so bald wie möglich zur Einsicht gelangen, dass es weltweit von 1,3 Milliarden Muslimen umgeben ist und dass es auf weite Sicht unmöglich ist, in diesem Riesenbereich als Sechs-Millionen-Staat ohne friedliche Zusammenarbeit mit den Nachbarn zu leben. In diesem Zusammenhang ist ein Artikel des amerikanischen Politologen Jeffrey Sachs in "Der Standard" vom 1. August sehr bedeutungs-voll. Er schreibt: "In einem derart tödlichen Umfeld kommt den Details und der Symbolik möglicher Lösungen enorme Bedeutung zu. Im Rahmen des Oslo-Friedensprozesses kamen Israelis und Palästinenser nahe an ein Abkommen unter dem Motto ‚Land für Frieden'. Beide Seiten unterstützten damals einen Plan, der Grenzen ähnlich denen vor 1967 vorsah. - - - Eine derartige Vereinbarung könnte momentan getroffen werden, aber nur wenn man fruchtlose Debatten darüber vermeidet, wer den Friedensprozess in der Vergangenheit blockiert hat."

In diesem Zusammenhang kommt auch den Beziehungen zwischen der Regierung Israels und den in den sogenannten "besetzten Gebieten" (inklusive Gaza) lebenden Palästinensern enorme Bedeutung zu. Es ist für gut informierte Zeitungsleser kein Geheimnis, dass die dort lebenden 3,3 Millionen Palästinenser in vieler Beziehung Staatsbürger zweiter Klasse sind. Während es im Jahr 2004 in Israel eine Arbeitslosigkeit von 10,7 Prozent gab, betrug die Arbeitslosenquote in den Palästinensergebieten 32,4 Prozent. Das Bruttonationaleinkommen (BIP) in Israel lag 2004 bei 16.240 Dollar pro Kopf, in den palästinensischen Gebieten jedoch nur bei 1.100 Dollar. (Diese Angaben stammen aus dem Fischer Weltalmanach 2006). Es könnten auch viele Beispiele dafür gebracht werden, wie das tägliche Leben der Palästinenser in "den Gebieten" dem Leben der farbigen Südafrikaner in der Zeit der Apartheid gleicht. Dort herrscht gegenüber dem omnipotenten israelischen Militärstaat in mancher Beziehung absolute Rechtlosigkeit.

Zusammenfassend sei hier gesagt: wenn Israel einen dauerhaften Frieden haben möchte, so muss es wieder zu jenen Friedensmaßnahmen zurückkehren, für die sich der seinerzeitige israelische Staatschef Yitzak Rabin bei der Unterzeichnung des Oslo-Vertrages am 13. September 1993 mit den Worten "Es sind genug Blut und Tränen geflossen" eingesetzt hat. Und er hat für seinen Aufruf "Ja zum Frieden, Nein zur Gewalt" bei einer großen Friedensveranstaltung am Königs-Platz von Tel Aviv am 4. November 1995 den Märtyrertod erlitten. Er starb für die Über-zeugung, dass Friede durch militärische Gewalt nie eine Dauerlösung sein kann.

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